Als einzige bisher bedeutendere Auseinandersetzung behandelt das Tötungsverbot in Israel J. J. Stamms Aufsatz: „Sprachliche Erwägungen zum Gebot „Du sollst nicht töten ” (ThZ 1(1945) 81-90). Stamm bezweckt auf Grund der Inhaltsforschung des Wortes r-c-ch, das in der Dekalogsformel vorkommt, die eigentliche Reichweite des Verbotes feststellen zu können. Da man aber schwer seine Behauptung bejahen mag, dass dieses Verbot allzu allgemein verfasst sei, so dass nachher weitere Bestimmungen erlassen werden mussten, die einige Arten erlaubter oder selbst geforderter Tötungen aus seiner Reichweite ausschalteten, schien es erwünscht, die F rage der eigentlichen Bedeutung des Wortes r-c-ch nochmals zu untersuchen, um Stamms Schlüsse auf Grund um fangreicheren Materials zu überprüfen. Der Dekalog äussert das Tötungsverbot in der apodiktischen Form, die eine der meist charakteristischen, einheimischen Formulierungen des israelitischen Rechtsstils darstellt. In dieser Formulierung wirkt es am klarsten , allgemeinsten und zugleich am direktesten - im Gegenteil zu 29 yerschiedenen anderen, nicht immer eindeutigen Vorschriften, die ebenfalls dieses Verbot irgendwie ausdrücken. Deshalb ist es erlaubt, die Auseinandersetzung über den eigentlichen Inhalt und die Reichweite des Tötungsverbotes auf die Dekalogsformel, eigentlich aber auf das Wort r-c-ch allein zu beschranken.1. A uf Grund des Satzes, dass die Urstämme nur aus zwei Konsonanten bestanden und etwaigen Bedeutungsmodifikationen erst durch das Herantreten einer dritten unterlagen, und dass die Bestandkonsonanten eines Wortes sowohl progressiv als auch regressiv einer Evolution unterliegen konnten, darf auch der Inhalt des Wortes racach im Lichte seiner vielgliedrigen etymologischen Wortabstammung betrachtet werden. Diese Untersuchung führt zum Schluss, dass der allgemeine Gedanke eines tödlichen Handelns jemand gegenüber am treffendsten eben durch das Wort r-c-ch ausgedrückt wird, im Gegenteil zu anderen Wörtern aus folgenden Wortgruppen: r-c-+ , r-ʽ-+, r-g-+, r-d-+, r-+-+, n-+-+.2. Die Betrachtung des Zusammenhanges der Bibelstellen mit dem Wort r-c-ch in der Substantiv-Form (rocéach) führt zwar zur Annahme, dass sie anscheinend in zweifacher sich widersprechender Bedeutung vorkommt: a) Der rocéach (Töter) als einer, der jemand unvorsätzlich getötet hat, sowohl aus Mangel vollen Bewusstseins, als auch bösen Willens. b) Der rocéach (Morder) als einer, der jemand vorsätzlich getötet hat, worauf der Zustand seines vollen Bewusstseins hinweist, wie auch der böse Wille dem Nächsten gegenüber. Trotz der anscheinenden Zwiedeutigkeit der rocéach-Form, wird sie durch die Hagiografen einerseits bewusst und mit Emphase benutzt in der Bedeutung „Mörder” (vorsätzliches Töten), wie dies besonders aus Nu 35, 16-21 erhellt, anderseits aber in der Bedeutung „Totschläger” (unvorsätzliches Töten) nur deshalb, weil die hebräische Sprache über kein anderes derartiges Dingwort verfügt. Der Zusammenhang der Verbalformen von racach in der Bibel erweist die Bedeutung einer Tötung aus Privat-Motiven, die ungerecht und rechtswidrig begangen wird, an einem unschuldigen, privaten, wehrlosen Menschen, durch jemand Privaten oder Offiziellen, doch immer dem richtig begriffenen Gemeinwohl zuwider und mit besonderer Hervorhebung der Sündhaftigkeit und des sittlichen Übels dieser Tat.3. Der so festgesetzte Inhalt des racach kann mit sinnverwandten Wörtern verglichen werden (es werden 29 solche Wörter analysiert). Diese Untersuchung erlaubt die Besonderheit des racach-Inhaltes in helles Licht zu stellen. Es gibt nämlich keine der besprochenen Wörter, selbst nicht das mit racach verwandteste harag, hemit und hikkah, die den racach-Inhalt völlig stellvertreten könnten. Mit diesem spezifischen Inhalt des racach stimmt jedoch ganz und gar ein synonimischer Ausdruck überein: „Unschuldiges Blut vergiessen”, oder nur: „Unschuldiges Blut” (zusammen 21 Bibelstellen). Dessen Inhalt ist folgendermassen festzusetzen: Das Töten eines privaten, armen Menschen, Kinder, Wehrloser, manchmal Menschen, die eine undankbare Mission im zum Heidentum neigenden Volk erfüllten ; begangen durch eine private oder öffentliche Person, oder gar durch eine grössere Gemeinschaft; aus privaten, politischen, religiösen Motiven, die jedoch immer dem Gemeinwohle widerfahren. Die inhaltliche Zusammenstellung des Ausdrucks „Unschuldiges Blut (vergiessen)” mit dem Wort racach beweist, dass sie sich völlig decken, jedoch so, dass der Ausdruck „Unschuldiges Blut” - die wesentliche Bedeutungsrichtung des racach um einige neue Lebenslagen erweitert: um Massenmorde (Jl 4, 19), um das Töten der Priester und Propheten Jahves und Kinder als Kultopfer. Die Formel des Dekalogs „Loʼ tircach” verbietet das Töten als „racach”. Es muss sich augenscheinlich um die als „emphatisch” erkannte Bedeutung handeln, da dafür die Strafverordnungen sprechen, in denen besonders die Zurechnungsfähigkeit des Täters hervorgehoben wird. Es wird also ein jedes Töten verboten das der Substantiv-Form rocéach entspricht, bereichert um alle Bedeutungsnuancen der Verbal-Form des racach, wie auch noch um weitere neue Elemente, die sich aus dem synonimischen Ausdruck „Unschuldiges Blut (vergiessen)” ergeben. Da die emphatische racach-Bedeutung im Sinn des Tötens auf Grund eines gerechten Todesurteiles nicht vorkommt, dürfte gleichzeitig angenommen werden, dass der Gesetzgeber erlaubt, jemandes des Lebens auf Grund einer gerechten Urtelisvollstreckung in Rahmen des Gemeinwohles und aus verhältnismässig wichtigen Gründen zu berauben. Stamm zuwider müsste also festgestellt werden, dass die Formulierung Loʼ tircach nicht nur als ein näher nicht bestimmtes Tötungsverbot bezeichnet werden kann, sondern dass sie als ein inhaltsschwangeres Prinzip anzusehen ist, das an sich selbst das entscheidende Kriterium der Gewalt über Leben und Tod des anderen darstellt. Die Dekalogsformulierung braucht nicht nur nachträglicher Einschränkungen ihres „vagen” Inhaltes, sondern sie bestimmt durch sich selbst die Anwendungen des an sich geäusserten Prinzips.